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FAMILIENMAGAZIN OLDENBURG  5 | 2020/21










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                                                                                bräuchten eigentlich dringend Hilfe.

                                                                                FAM: Was kann man Eltern raten?
             EXPERTEN-INTERVIEW                                                 Angela Paradies: Nun, wenn Eltern

                                                                                Hilfe brauchen, empfehle ich, sich
             Angela Paradies                                                    an Beratungsstellen zu wenden: Es
             Dipl.-Psychologin, Traumatherapeutin                               gibt z. B. Familienberatungsstellen,
             Delta Institut f. Angewandte Psychologie                           Jugendämter, Selbsthilfegruppen für
                                                                                gewalttätige Männer und andere
                                                                                Angebote. Eltern bekommen dort Hilfe.

                                                                                Und Eltern sollten verstehen: Kinder
       Form von Gewalt gegen Schwäche-      Nacht, sie zeigen deutliche Schwächen   brauchen beides: Grenzen und die
       re, gegen die eigenen Eltern – oder   in Fragen von Autonomie, Meinungs-   Möglichkeit, ihren Willen zu entfalten.
       gegen sich selbst. Dies ist die Spirale   und Willensbildung und Entschei-
       der Gewalt, wie wir sie viele Jahr-  dungsfähigkeit. Dies führt wiederum   Auf der einen Seite ist es wichtig, dass
       zehnte in Deutschland erlebt haben,   zu einem schwachen Selbstwertgefühl,   Kinder nicht immer ihren Willen durch-
       und sie leider immer noch existiert.  Unsicherheiten und Abhängigkeiten   setzen, sondern auch lernen, sich in das
                                            wie z. B. Suchtverhalten. Oft zeigt sich   soziale Gefüge „Familie“ einzuordnen
       FAM: Der Staatsanwalt sagte, dass    aggressives Verhalten gegenüber ande-  und Grenzen zu akzeptieren. Hierfür
       es noch gar nicht so lange her       ren oder gegen sich selbst als selbst-  gibt es bessere Mittel als Gewalt:
       sei, dass Schlagen erlaubt war.      schädigendes Verhalten in Form von   Angemessene, nachvollziehbare und
                                            Haareausreißen, Kauen der Fingernä-  altersgerechte Konsequenzen oder
       Angela Paradies: Ich weiß nicht, wie   gel, Ritzen oder anderen Schädigungen   auch eine gewaltfreie Konfliktkultur.
       lange der Staatsanwalt geschlafen    der Haut. Durch starke emotionale Be-  Eine altersgerechte kommunikative
       hat. Immerhin ist es 28 Jahre her, dass   lastung wird das Denken blockiert, was   Auseinandersetzung mit dem Kind
       Deutschland die UN Kinderrechts-     Leistungs- und Schulversagen nach   über sein Fehlverhalten und elter-
       konvention unterzeichnet hat, und    sich zieht. Viele dieser Kinder zeigen   liche Angebote von Lösungen oder
       seit dem Jahr 2000 stellt auch das   eine tiefe Traurigkeit, sie werden ini-  Wiedergutmachung helfen Kindern,
       Bürgerliche Gesetzbuch klar, dass    tiativlos, verlieren die Freude und das   das familiäre System zu verstehen, zu
       Eltern ihre Kinder nicht mehr schla-  Interesse an kindlichen Aktivitäten und   akzeptieren und sich gut zu integrieren.
       gen dürfen, sondern Kinder ein Recht   ihrer sozialen Umwelt, sie ziehen sich
       auf gewaltfreie Erziehung haben.     in sich und ihre Traumwelt zurück und   Auf der anderen Seite brauchen Kinder
                                            entwickeln schlimmstenfalls tiefgrei-  auch die Möglichkeit, ihren Willen dort
       Aber grundsätzlich wird die Züch-    fende depressive oder andere psychi-  durchzusetzen, wo es um ihre ganz
       tigung von Kindern nicht richti-     sche Störungen. In jedem Fall nimmt   eigenen Belange geht und sie andere
       ger und besser, nur weil sie noch    die kindliche Seele schweren Schaden!  nicht einschränken oder behindern.
       bis vor 20 Jahren erlaubt war.
                                            FAM: Haben Sie eine Idee, warum     Wir möchten doch alle, dass unse-
       FAM: Wie ist denn die Sichtweise der   Eltern ihre Kinder überhaupt schlagen?  re Kinder geistig und seelisch stark
       Psychologie heute zum Thema „elterli-                                    heranwachsen, dass sie lernen, ih-
       che Gewalt“?                         Angela Paradies: Eltern wenden meis-  ren Willen frei zu formulieren, sich
                                            tens dann Gewalt gegen ihre Kinder   zu Werten bekennen beziehungs-
       Angela Paradies: Gut, dass man in    an, wenn diese so etwa ab dem dritten/   weise lernen, sich deutlich abzu-
       der Psychologie und Pädagogik seit   vierten Lebensjahr einen eigenen    grenzen und „nein“ zu sagen, dann,
       Längerem erkannt hat, welch gra-     Willen entwickeln, nicht gehorchen   wenn es wichtig und sinnvoll ist.
       vierende Folgen Gewalt in der Er-    wollen. Eltern fühlen sich dann hilflos,
       ziehung hat. Man weiß heute, dass    und oft kennen sie aus ihrer eigenen   Doch wo sollen sie das lernen, wenn
       Kinder, die körperliche oder seeli-  Kindheit nur die Gewalt als Lösung von   nicht zu Hause, in dem Raum, der
       sche Gewalt in der Erziehung erlebt   Konflikten. Aus diesem Unwissen und   für sie ein Schutzraum sein soll?
       haben, mehr oder minder schwere      Unvermögen heraus schlagen sie dann.
       Folgeschäden davontragen.            Je älter die Kinder werden und ihren   Wenn wir den Willen der Kinder mit
                                            Willen formulieren können, umso mehr   Gewalt brechen, müssen wir uns nicht
       Diese Kinder entwickeln viele unter-  eskaliert dann oft die Gewalt. Viele   wundern, wenn sie in späteren Jahren
       schiedliche Ängste bei Tag und in der   Eltern erkennen ihre Hilflosigkeit und   entweder zu „willenlosen“ bzw. „unwil-


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