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FAMILIENMAGAZIN OLDENBURG 4 | 2018

mich zu ritzen

Eine Betroffene und ihre Mutter berichten

ders in der Schule, aber auch       ihres äußeren Erscheinungsbildes        Claudia: Ich bin stolz auf meine        © TrueMitra, FreeVectors.com
zuhause. Das Ritzen tat zwar        annehmen, sie sei sehr selbstbewusst.   Tochter. Wie stark sie ist. Sie
weh, aber ich konnte mich           Wie kommst du mit ihren äußerlichen     geht sogar zusammen mit mir
dann wenigstens fühlen. In der      Veränderungen vom braven Mädchen        mit kurzen Ärmeln einkaufen.
Schule war ich schon immer          zur Rebellin mit Narben zurecht?        Die meisten Leute gucken erst
eine Einzelgängerin, weil ich       Claudia: Als die optische Revolution    auf ihr krasses Outfit, dann
sehr still bin. Gleichzeitig habe   begann, war es schon etwas ver-         auf ihre Arme und sehen dann
ich den starken Wunsch, mich        störend. Sie ist ja ein so hübsches     betreten weg, oder sie sehen
ganz individuell optisch auszu-     Mädchen. Aber man denkt erst ein-       mich vorwurfsvoll an. Leicht ist
drücken. Auch äußerlich über        mal nur an Pubertät. Manchmal ist       das nicht, aber es ist wichtig für
Kleidung und Schmuck. Damit         es eine Herausforderung für mich,       uns beide, ganz dazu zu stehen.
können die meisten nicht um-        zum Beispiel den raschen Wechsel        Seit sie aus der Klink zurück
gehen. Ich fühle eigentlich dau-    von krassen Frisuren und Haarfarben     ist, reden wir wieder sehr
ernd eine Spannung. Ich möchte      mitzuerleben oder die provozierende     viel miteinander. Sie weiß,
Kontakt und wahrgenommen            Kleidung. Gleichzeitig sehe ich, dass   dass sie mit allem zu mir
werden, und ich möchte gleich-      sie viel künstlerisches Talent hat und  kommen kann, und sie geht
zeitig alleine sein. Wenn ich       sich auch über ihren Look ausdrücken    regelmäßig in die ambulante
mich geritzt habe, konnte ich       möchte. Und es tut mir immer wieder     Therapie. Ich hoffe, dass das
mich wenigstens überhaupt           sehr weh, ihre tiefen Narben überall    Schlimmste nun vorbei ist.
fühlen. Leere und Traurigkeit       an ihrem zarten 14-jährigen Körper      Ruth: Ich fühle mich innerlich
waren dann für ein paar Minu-       zu sehen. Die kann man zwar später      kräftiger und klarer. Ich will
ten oder Stunden nicht mehr         einmal optisch verbessern lassen, aber  das überwinden, und ich habe
so drückend. Der Schmerz war        sie werden nie mehr ganz weggehen.      zwei anderen Jugendlichen in
auch eine Erleichterung. Da-        FAM: Wie geht’s jetzt weiter?           der Klinik geschworen, nicht
nach, mit den Verbänden, ging       Ruth: Ich gehe wieder hier im Ort       mehr zu ritzen. Daran denke ich,
es mir nicht gut. Oft konnte        in die Schule, habe aber einen Jahr-    wenn der Drang dazu kommt.
ich kaum sitzen oder liegen. Es     gang runtergewechselt. Ich bin          FAM: Vielen Dank für euer
tut weh und es juckt. Ich hatte     über den Klinik­aufenthalt inner-       Vertrauen und viel Glück!
immer Sorge, dass mich jemand       lich stärker geworden, und ich übe,     * Namen von der Redaktion
entdeckt, und ich habe mich         mich nicht mehr zu verstecken,          geändert
sehr geschämt, gleichzeitig war     sondern auch mit meinen Narben
der Drang da, es wieder zu tun.     in der Welt sichtbar zu werden.
FAM: Claudia, wer Ruth nicht
näher kennt, könnte aufgrund

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