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Soziales

    Bis aufs Blut –
             Der Drang,

    „Sie war eigentlich immer ein lie-  gegangen. Dort saß sie am Schreib-       stationären Klinikaufenthalt
    bes, stilles Mädchen. Wir hatten    tisch und hielt ihren Arm sonderbar zur  geben würde. Das wollte ich
    immer ein gutes Verhältnis“, sagt   Seite. Nach unserer Verabschiedung       erst nicht. Habe mich dann
    Claudia* und sieht ihre 14-jährige  ging mir während der Autofahrt dieses    aber im Internet über die Klinik
    Tochter Ruth* liebevoll an. Vor     Bild nicht mehr aus dem Kopf. Ich hatte  informiert und zugestimmt.
    gut einem Jahr hat die Mutter die   ein schlechtes Gefühl, bin zurückge-     FAM: Wie ging es weiter?
    Selbstverletzungen ihrer Tochter    fahren, habe sie zur Rede gestellt, und  Ruth: Ich war drei Monate in ei-
    entdeckt. Gemeinsam versuchen       sah da schon einen Teil eines Verban-    ner Klinik weit weg von zuhause
    sie seitdem, die Herausforde-       des unter dem langen Ärmel hervor-       und nur an einigen Wochen-
    rung „Ritzen“ zu meistern:          schauen. Dann musste sie mir ihre tief   enden bei meiner Familie. Der
                                        verletzten Arme zeigen, und auch die     geregelte Tagesablauf in der
    FAM: Claudia, wie bist du hinter    Wunden an Oberschenkeln und Po, die      Klinik hat mir gutgetan. Es gab
    das Ritzen gekommen, und            sie sich zugefügt hatte. Das war ein     viele Angebote. Gespräche, Sport
    hattest du vorher bereits Ver-      ganz schlimmer Augenblick. Ich habe      und Kunsttherapie. Gemeinsam
    änderungen an Ruth bemerkt?         geschrien und geweint. Man denkt         mit anderen, die ähnliche Prob-
                                        immer, so etwas kommt in der eigenen     leme haben, etwas zu unterneh-
    Claudia: Ruth war verschlosse-      Familie nicht vor. Von dem Tag an habe   men, war gut. Und ich habe dort
    ner und eigensinniger geworden.     ich sie jeden Abend beim Duschen auf     ganz viel gemalt. Darüber kann
    Auch optisch wechselte sie von      mögliche neue Verletzungen kontrol-      ich meine Gefühle am besten
    einem angepassten Mädchen-          liert und zum Glück ganz schnell eine    ausdrücken, und es war schön,
    Look auf Schlabberlook, Schwarz,    gute Psychologin für Ruth gefunden.      dafür eine Einzelbetreuung zu
    einen krassen Haarschnitt und       FAM: Ruth, wie war es für dich, als die  haben und nicht alleine zu sein.
    Rebellion. Dabei haben wir          Selbstverletzungen entdeckt wurden?      FAM: Nicht alleine zu sein, sagst
    uns bei Eintritt der Pubertät       Ruth: Ich hatte ungefähr einen Monat     du. Ist Einsamkeit ein Thema von
    aber erst einmal nichts weiter      vorher damit angefangen. Und ich         dir? Welche Gefühle haben dazu
    gedacht. Viele Mädchen haben        habe mich sehr geschämt, als mei-        geführt, dass du angefangen
    dann ja ein stärkeres Bedürfnis     ne Mutter es entdeckte. Es sollte ja     hast, dich selbst zu verletzen?
    nach Rückzug und Selbstfin-         niemand sehen. Gleichzeitig war es       Ruth: Ich war oft einsam, traurig
    dung. Dass sie ritzen könnte,       gut, damit nicht mehr alleine zu sein.   und irgendwie komplett leer.
    habe ich nie für möglich gehal-     Ich habe dann trotz der Kontrollen       Das hat sich ganz langsam über
    ten. Das lag außerhalb meines       noch einmal sehr heftig geritzt. Da-     Jahre angeschlichen. Beson-
    Vorstellungsvermögens. An dem       nach war klar, dass es nicht ambulant
    Morgen, als ich es entdeckte,       weitergehen konnte, sondern einen
    bin ich vor dem Weg zur Arbeit
    nochmal kurz in ihr Zimmer

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