Page 38 - FMO418
P. 38
Soziales
Bis aufs Blut –
Der Drang,
„Sie war eigentlich immer ein lie- gegangen. Dort saß sie am Schreib- stationären Klinikaufenthalt
bes, stilles Mädchen. Wir hatten tisch und hielt ihren Arm sonderbar zur geben würde. Das wollte ich
immer ein gutes Verhältnis“, sagt Seite. Nach unserer Verabschiedung erst nicht. Habe mich dann
Claudia* und sieht ihre 14-jährige ging mir während der Autofahrt dieses aber im Internet über die Klinik
Tochter Ruth* liebevoll an. Vor Bild nicht mehr aus dem Kopf. Ich hatte informiert und zugestimmt.
gut einem Jahr hat die Mutter die ein schlechtes Gefühl, bin zurückge- FAM: Wie ging es weiter?
Selbstverletzungen ihrer Tochter fahren, habe sie zur Rede gestellt, und Ruth: Ich war drei Monate in ei-
entdeckt. Gemeinsam versuchen sah da schon einen Teil eines Verban- ner Klinik weit weg von zuhause
sie seitdem, die Herausforde- des unter dem langen Ärmel hervor- und nur an einigen Wochen-
rung „Ritzen“ zu meistern: schauen. Dann musste sie mir ihre tief enden bei meiner Familie. Der
verletzten Arme zeigen, und auch die geregelte Tagesablauf in der
FAM: Claudia, wie bist du hinter Wunden an Oberschenkeln und Po, die Klinik hat mir gutgetan. Es gab
das Ritzen gekommen, und sie sich zugefügt hatte. Das war ein viele Angebote. Gespräche, Sport
hattest du vorher bereits Ver- ganz schlimmer Augenblick. Ich habe und Kunsttherapie. Gemeinsam
änderungen an Ruth bemerkt? geschrien und geweint. Man denkt mit anderen, die ähnliche Prob-
immer, so etwas kommt in der eigenen leme haben, etwas zu unterneh-
Claudia: Ruth war verschlosse- Familie nicht vor. Von dem Tag an habe men, war gut. Und ich habe dort
ner und eigensinniger geworden. ich sie jeden Abend beim Duschen auf ganz viel gemalt. Darüber kann
Auch optisch wechselte sie von mögliche neue Verletzungen kontrol- ich meine Gefühle am besten
einem angepassten Mädchen- liert und zum Glück ganz schnell eine ausdrücken, und es war schön,
Look auf Schlabberlook, Schwarz, gute Psychologin für Ruth gefunden. dafür eine Einzelbetreuung zu
einen krassen Haarschnitt und FAM: Ruth, wie war es für dich, als die haben und nicht alleine zu sein.
Rebellion. Dabei haben wir Selbstverletzungen entdeckt wurden? FAM: Nicht alleine zu sein, sagst
uns bei Eintritt der Pubertät Ruth: Ich hatte ungefähr einen Monat du. Ist Einsamkeit ein Thema von
aber erst einmal nichts weiter vorher damit angefangen. Und ich dir? Welche Gefühle haben dazu
gedacht. Viele Mädchen haben habe mich sehr geschämt, als mei- geführt, dass du angefangen
dann ja ein stärkeres Bedürfnis ne Mutter es entdeckte. Es sollte ja hast, dich selbst zu verletzen?
nach Rückzug und Selbstfin- niemand sehen. Gleichzeitig war es Ruth: Ich war oft einsam, traurig
dung. Dass sie ritzen könnte, gut, damit nicht mehr alleine zu sein. und irgendwie komplett leer.
habe ich nie für möglich gehal- Ich habe dann trotz der Kontrollen Das hat sich ganz langsam über
ten. Das lag außerhalb meines noch einmal sehr heftig geritzt. Da- Jahre angeschlichen. Beson-
Vorstellungsvermögens. An dem nach war klar, dass es nicht ambulant
Morgen, als ich es entdeckte, weitergehen konnte, sondern einen
bin ich vor dem Weg zur Arbeit
nochmal kurz in ihr Zimmer
38