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Soziales
Elternrat: Unser Kind
Was sollen wir tun?
Experteninterview mit Dr.-medic (RO) Agneta Paul, Direktorin der
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychosomatik und
Psychotherapie im Klinikum Oldenburg
© Lukas Lehmann Dr. Paul: Nein! Zu Autoaggression bis dass ein gewisses genetisches Risiko
hin zu tödlichen Suizidmethoden, etwa für SVV besteht, u. a. in Zusammen-
FAM: Frau Dr. Paul, was beinhaltet aufgrund von depressiven Störungen, hang mit bekannter Erblichkeit von
der Begriff des direkten selbst- Drogenmissbrauch, Überforderung, Depressionen, Substanzkonsum und
schädigenden Verhaltens (SVV)? Mangel an ausreichender kognitiver anderen psychiatrischen Störungen.
Dr. Paul: Der Begriff umfasst jede Reife oder tiefer Hoffnungslosigkeit, Weitere Faktoren, die zu SVV führen
Form einer absichtlichen, nicht tödlich kommt es in ca. 15 Prozent der Fälle. können, sind psychiatrische Störun-
selbst herbeigeführten Verletzung Jedes SVV muss ernst genommen gen der Jugendlichen selbst, körper-
oder Vergiftung; unabhängig vom werden. Selbstverletzung gehört nicht liche Erkrankungen, ein Mangel an
Motiv oder einem möglichen Todes- zur Normalität. Sie ist ein gravieren- unterstützenden familiären Bezie-
wunsch. Bei Kindern und Jugendli- des Signal! Wir sollten jedoch nicht hungen, traumatische Ereignisse in
chen kommt dieses etwa tausendmal alle Jugendlichen mit SVV sofort der Vorgeschichte, Überforderung in
häufiger vor als ein Suizidversuch. als psychisch krank einstufen! der Schule oder am Arbeitsplatz.
FAM: Wie häufig kommt SVV bei Mäd- In der Regel geschieht SVV impulsiv, Spontan auslösende Faktoren sind
chen und Jungen vor, und in welchem wenige von den betroffenen Jugend- häufig familiäre oder schulische
Alter ist die Häufigkeit am höchsten? lichen haben vorher darüber nachge- Auseinandersetzungen, Liebes-
Dr. Paul: Die Prävalenz liegt bei 45 dacht. Die meisten Kinder und Jugend- kummer, Identifikationsprobleme,
Prozent der Mädchen und 35 Prozent lichen, die aufgrund einer akuten Krise Konflikte in Freundschaften, sexu-
der Jungen vor. Allerdings wird nur zur Selbstverletzung greifen, aber eller oder seelischer Missbrauch.
ein kleiner Teil deswegen ärztlich sonst gut adaptiert in den familiären Die Jugendlichen wünschen sich
vorgestellt. Vor dem 12. Lebens- und sozialen Kontexten sind, haben dann „Entlastung“, eine „Pause“ von
jahr ist SVV bei Jungen häufiger eine ausgesprochen gute Prognose. schwierigen Lebensumständen, oder
als bei Mädchen, im Teenageralter In manchen Gruppen von Jugend- sie versuchen diese über SVV in eine
sind Mädchen mindestens doppelt lichen ist SVV regelrecht „anste- bestimmte Richtung zu beeinflussen.
so häufig betroffen wie Jungen. ckend“ und erfolgt als Akt der FAM: Wie sollten Eltern oder andere
FAM: Aber nicht jeder Jugendliche, der Zugehörigkeit zu einer Peergroup, nahe Bezugspersonen reagieren,
sich einmal ritzt, hat auch eine Bor- sowohl im direkten Kontakt als auch wenn sie SVV bei Kindern oder Ju-
derline- oder sonstige Persönlichkeits- über virtuelle soziale Netzwerke. gendlichen feststellen?
störung und ist suizidgefährdet, oder? FAM: Welche Hintergründe führen zu Dr. Paul: Sie sollten nach Möglich-
SVV? Was sind weitere auslösende keit Ruhe bewahren und beim ers-
Faktoren? Spielt Vererbung eine Rolle? ten Auftreten von SVV umgehend
Dr. Paul: Es gibt zwar nur wenige eine Beratung in Anspruch nehmen.
qualitativ hochwertige Langzeitstu- Oft sehen die Jugendlichen dann
dien über SVV, wir wissen jedoch, sehr schnell ein, dass sie ganz ein-
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