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Familie und Soziales
Erfahrungsbericht:
Geflüchteten eine
Unterkunft anbieten
Mehr Dankbarkeit als Schwierigkeiten –
und was uns verbindet
ie Ukraine war für uns ein Land, wie diese dann konkret aussehen wür- sere eigenen Kinder damit umgehen?
irgendwo, fast am Ende Europas, de. Aber die ersten Schritte waren klar: Und wie würde es mit der Verständi-
Dweit weg, den meisten möglicher- Die vorhandenen Gästezimmer wurden gung funktionieren? Wir hatten uns
weise nur bekannt über die Klitschko- ausgeräumt und hergerichtet. Wir über- informiert, was zu tun war, wenn die
Brüder oder die Gewinner des European legten gemeinsam, was alles benötigt Geflüchteten psychologische Unterstüt-
Vision Song Contest 2016. Wie nah aber wurde, baten in der Nachbarschaft um zung benötigten. Denn wir machten uns
dieses Land tatsächlich ist, erfahren Unterstützung. Innerhalb kürzester nichts vor; diese Menschen hatten Hals
wir nun, da wir den Krieg unmittelbar Zeit waren wir bereit, eine vierköpfi ge über Kopf ihre Heimat, ihre Familie und
miterleben und seine Konsequenzen zu Familie aufzunehmen. Wir wollten so ihr Eigentum verlassen und waren in
spüren bekommen. viel Privatsphäre wie möglich anbie- ein Land gereist, dessen Sprache sie
ten, hatten, neben Betten und anderen nicht verstehen. Es war uns klar, dass
Geschockt von den Bildern und betrof- Möbeln, einen kleinen Kühlschrank, wir sehr wahrscheinlich Verständi-
fen von den Einzelschicksalen wollen Wasserkocher und ähnliches besorgt. gungsschwierigkeiten haben würden,
alle einfach nur helfen, Leid zu mildern. Ohne genau zu wissen, wer kommen da kaum ein Ukrainer gut Englisch
Die Bereitschaft schnell, wirkungsvoll würde, versuchten wir uns vorzube- spricht und wir keinen Schimmer von
und angemessen Hilfe zu leisten, ist reiten. Wir besorgten Kosmetikartikel, Russisch oder Ukrainisch hatten. Auch
fast im ganzen Land überwältigend und Zahnbürsten, Kekse und Blumen (über hatten wir Sorge, da wir gehört hatten,
berührend. Jeder gibt, was er kann und die sie sich dann besonders freuen dass manche die Hilfe als aufdringlich
jeder teilt, was er hat. Vom Tierheim bis sollten). Wir vergaßen die Hausschuhe, empfanden und dadurch Missverständ-
zur Schule, alle zeigen Solidarität. wie wir später feststellen mussten. nisse ausgelöst werden könnten. Blau-
äugig waren wir jedenfalls nicht.
Ich wohne in einem Zweifamilienhaus. Es dauerte eine ganze Weile, bis die
Mit uns im Haus wohnen unsere Ver- Mühlen der Bürokratie es schließlich Nach zwei Stunden des Wartens
mieter, die sich sehr früh dazu ent- zuließen, dass wir unsere neuen Mit- erfuhren wir auf Nachfragen, dass der
schlossen haben, Geflüchteten Wohn- bewohner begrüßen durften. Als sie für Bus erst am nächsten Tag aus Berlin
raum anzubieten. Das war ein Schritt, einen Samstag angekündigt wurden, eintreffen würde, dann aber eine Mutter
der wohlüberlegt sein musste, denn erwarteten wir eine Mutter und zwei mit vier Kindern und einem Enkelkind
uns war klar, dass es bei dieser Form Kinder. Wir hatten Kuchen gebacken käme – ob das für uns in Ordnung sei?
der Hilfe nicht nur um ein Dach über und waren aufgeregt. Hatten wir an Unsere Räumlichkeiten würden si-
dem Kopf ging. Wir sagten unsere Un- alles gedacht? Würden sie hier genug cherlich nicht ausreichen, da es schon
terstützung zu, ohne genau zu wissen, Privatsphäre haben? Wie würden un- für vier recht eng sein würde. Die
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