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FAMILIENMAGAZIN OLDENBURG 2 | 2022
wird, das Kind in seinem Wutanfall zu ignorieren. Das
halte ich für unmenschlich. Wie würden Sie sich fühlen,
wenn Sie sich in tiefer Not und Verzweiflung befinden
und der Mensch, der Ihnen am liebsten und wichtigsten
ist, Sie dann einfach ignorieren würde, bis Sie sich wieder
beruhigt haben?
Ich verstehe allerdings, dass dieses geduldige Aushal-
ten dieser Wutanfälle an Ihre Grenzen geht. Sie sind ja
schließlich auch nur ein Mensch!
© Foto Ventura Manchmal hilft es, diese Wut nicht persönlich zu neh-
men. Machen Sie sich klar, dass Fynn Sie damit nicht
ärgern will. Er ist einfach sehr mit seiner Selbstregulation
Zur Beantwortung und als Ratgeberin beschäftigt und da hilft ihm am meisten eine ruhige und
befragen wir Sabine Tewes, Ärztin und verständnisvolle Mutter.
Familientherapeutin in Oldenburg Sachliches Argumentieren hilft in dieser akuten Situati-
on nicht. Da geht es wirklich nur um das Durchleben der
unangenehmen Gefühle.
hier und bleibe bei dir, solange du so wütend bist. Wir Später allerdings können Sie ihm ein Gespräch anbieten,
halten deine Wut zusammen aus.“ indem Sie ihm helfen, das, was passiert ist, für ihn in
Versuchen Sie dabei, exakt die Worte des Kindes in Worte zu fassen. „Du wolltest so gerne das Eis essen und
möglichst demselben Tonfall wiederzugeben. „Ja, willst es ist frustrierend, dass du noch nicht groß genug bist,
Schoko. Blöde Mama. Doof. Willst Schoko, jetzt.“ um es dir einfach zu kaufen. Du hast gemerkt, dass du auf
Dadurch erfährt das Kind wirklich einen Spiegel, in dem deine Mama angewiesen bist und wenn sie es dir nicht
es sich gesehen und verstanden fühlt. Und allein das kauft, kannst du nichts machen. Und das macht dich dann
lässt die Wut oft abflachen. Letztendlich sehnen sich wütend. Deshalb hast du geschrien.“ So lernt das Kind,
alle Kinder danach, verstanden zu werden. Und wenn wir sich selbst und seine Gefühle zu verstehen.
stattdessen reagieren mit: „Nun stell dich nicht so an! Das
ist doch kein Grund zu weinen und zu toben …“, ja, dann Eine andere Möglichkeit ist, ihm als Vorbild vorzuleben,
fühlt sich das Kind sicher nicht in seiner gefühlten Not wie Sie selbst mit Ihrem Frust umgehen, wenn etwas
und Ohnmacht verstanden. nicht so läuft, wie Sie sich das vorgestellt haben. Wenn
Wenn das Kind in Ihrer Gegenwart lernt, dass es seine Ihnen morgens die Kaffeetasse am Frühstückstisch um-
Gefühle haben darf und damit nicht alleine gelassen wird, kippt, beschreiben Sie ihm, was JETZT in Ihnen passiert.
macht es die wichtige Erfahrung, dass es stark genug ist, „Oh, nein, jetzt hab ich alles verschüttet, das macht mich
diese Frustgefühle auszuhalten und dass sie dann auch ärgerlich, weil ich jetzt die Tischdecke waschen muss
vorbeigehen. und eigentlich keine Zeit habe. Am liebsten würde ich
Damit steigert das Kind seine Frustrationstoleranz. schreien, so wütend bin ich. Aber jetzt atme ich erstmal
Ich bin kein Freund davon, Kinder aus dem Zimmer zu dreimal tief durch. So etwas passiert eben. Ich nehme die
schicken mit dem Hinweis: „Du kannst erst wiederkom- Tischdecke schnell ab und wasche Sie heute Abend. So
men, wenn du dich beruhigt hast.“ JA, das Kind soll sich schlimm ist es auch nicht.“
beruhigen, aber es beruhigt sich leichter, wenn es die Er- Wenn Sie Ihre eigenen Emotionen wahrnehmen und be-
fahrung macht: „Ich bin nicht allein und Mama hält diese nennen, lernt das Kind, es ebenso zu tun und diese nicht
blöden Gefühle von Ärger, Wut und Ohnmacht zusammen unreflektiert auszuagieren.
mit mir aus.“
Optimal wäre es, wenn das Kind seine Wut in den Armen Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Trotzphase
der Mutter erleben könnte. Durch die feste körperliche DIE entscheidende Zeit ist, in der die Weichen gestellt
Umarmung und den Halt, den es dadurch erfährt, lassen werden, wie wir als Erwachsener angemessen mit
sich diese überwältigenden Gefühle am besten aushal- unseren Gefühlen umgehen. Insofern ist das jetzt Ihre
ten. Dies ist allerdings nur sinnvoll, wenn Sie sich dazu große Chance, Fynn dabei zu helfen, ein selbstbewusster
in der Lage sehen. Wenn Sie tatsächlich mit all Ihrer Mensch zu werden, der seine eigenen Emotionen einord-
Liebe dem Kind diesen körperlichen Halt geben können. nen und regulieren kann.
Es darf nicht zu einer Pflichtübung werden, die vielleicht
sogar mit eigenen Gefühlen von Ärger und Widerstand Und – haben Sie Mitgefühl mit sich selber! Es ist anstren-
verbunden ist. Dann bleiben Sie lieber nur in der Nähe gend, ein Kind in der Trotzphase zu begleiten!
des Kindes. Bleiben Sie dann aber mit Ihrer Präsenz und
Ihrem Mitgefühl bei ihm. Ich weiß, dass oftmals geraten Sabine Tewes
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