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FAMILIENMAGAZIN OLDENBURG 3 | 2019
zogen, die Scheu, sich zu trennen, weil Was übrigens auch damit zusammen- Deshalb müssen sie quasi alles
kleine Kinder da sind, ist heute nicht hängt, dass wir in einer Konsumgesell- neu erfinden. Und das belastet Be-
mehr da. Und die Bereitschaft, schwie- schaft leben, in der Bedürfnisse schnell ziehungen. Es wäre viel leichter,
rige Phasen auszuhalten oder Kompro- gestillt werden. Belohnungsaufschub, wenn Paare lernten, Unterschie-
misse einzugehen, ist deutlich geringer dass ich in etwas investiere und die de als Ressource zu sehen.
geworden. Das konnte ich in den 25 Früchte erst später ernten kann, das
Jahren meiner Tätigkeit als Paarthe- ist uns ziemlich abtrainiert worden. FAM: Die Unfähigkeit, Unterschiede ak-
rapeutin immer wieder beobachten. zeptieren zu können, scheint mir über-
FAM: Können wir noch mal kurz auf haupt ein sehr verbreitetes Phänomen
FAM: Spielt es auch eine Rolle, die veränderten Rollenbilder zu- in der Gesellschaft geworden zu sein.
dass die durchschnittliche Lebens- rückkommen. Was genau hat sich Ich denke da an das Thema Politische
erwartung heute viel höher ist? dadurch verändert, dass Frauen Korrektheit. Deren Anhänger pochen
heute selbstbewusster und öko- gerne auf „Diversity“, also eine multi-
von Tiedemann: Oh ja! Wir haben im nomisch unabhängiger sind? kulturelle Gesellschaft und Akzeptanz
Vergleich zu früher heute eine sehr des Andersseins. Aber wenn es darum
lange Lebenserwartung. Selbst wenn PAARE SOLLTEN LERNEN, UNTER- geht, eine andere politische Meinung
die Kinder aus dem Haus sind, haben SCHIEDE ALS RESSOURCE ZU SEHEN zu tolerieren, dann ist plötzlich wieder
viele Paare noch 30 Jahre und mehr an Gleichheit und Einheitlichkeit gefragt.
Lebenszeit vor sich. Das gab es früher von Tiedemann: Als sich ebenbürti- Und es wird geradezu feindselig auf
nicht. Da hat man bis zu zehn Kinder ge Familienmodelle als zunehmend andere Meinungen reagiert. Die Philo-
gekriegt und ist dann auch schon bald attraktiv entwickelt haben, führte das sophin und Feministin Svenja Flaßpöh-
nach der Familienphase gestorben. Die auch dazu, dass die Aufgabenvertei- ler berichtete mal in einem Interview,
heute potenziell sehr lange Paarzeit lung neu verhandelt werden musste. dass junge Feministinnen sie in einer
ist eine enorme Herausforderung. Während es in der konservativen, Diskussion angebrüllt hätten „Hören
Und die kann nur bewältigt werden, traditionellen Partnerschaft ganz klar Sie auf! Sie beleidigen uns!“, anstatt
wenn sich die Beziehung wandelt. war, wer für was zuständig ist. Da gab ihr argumentativ zu widersprechen.
es nicht so viele Diskussionen oder gar
FAM: Was heißt das konkret? keine darüber, wer was machen muss. von Tiedemann: Ja, genau das meine
Heute hingegen haben wir es mit der ich. Psychologisch gesehen bedeutet
VERLÄSSLICHE LIEBE ERFORDERT, Idee der Gleichheit für Partnerschaf- Unterschiede auszuhalten, Spannung
DASS MAN SICH BEMÜHT ten zu tun. Und Gleichheit bedeutet auszuhalten. Und Spannung auszu-
für die meisten dummerweise auch halten ist etwas, dass wir zunehmend
von Tiedemann: Die Zeit der Wahl des „gerecht“. Und das heißt dann: „Du unseren Kindern abtrainieren. Sie
Partners liegt lange zurück. Beide sind musst genauso wie ich. Ich wickele müssen nur mal mit dem Zug fah-
nicht mehr die Menschen, die sie wa- das Kind zwanzigmal, dann musst ren. Da können Sie beobachten, wie
ren, als sie als Partner gewählt wurden. du es auch zwanzigmal wickeln. Ich Eltern ihren Kindern beim kleinsten
Die logische Konsequenz daraus ist, wasche zwanzigmal ab, dann musst du Pieps sofort das iPad hinschieben,
dass ein Paar dann gemeinsam einen auch zwanzigmal abspülen. Ich kaufe weil Eltern sich hilflos fühlen, wenn
Entwicklungsprozess zu bewältigen Geschenke, dann musst du das auch“. ihre Kinder unruhig sind und sie sie
hat, damit die Partnerschaft auch Dieser Gleichheitsanspruch strapaziert nicht beruhigen können. Die Kinder
weiterhin funktioniert. Das erfordert die Beziehungen enorm. Umgekehrt lernen so nicht, ihre Spannungen
natürlich die Bereitschaft, sich zu ver- hat die Fähigkeit abgenommen, Unter- selber zu regulieren, weil sie erfahren,
ändern. Und das kostet Energie. Diese schiede auszuhalten. Also dass jeder dass Spannungen sofort mit einem
zu investieren, dazu sind viele nicht Unterschiedliches zur Partnerschaft äußeren Reiz beseitigt werden.
bereit, weil sie der romantischen Idee beiträgt, weil die Partner auch unter-
anhängen, dass eine funktionierende schiedliche Fähigkeiten haben. Obwohl
Partnerschaft doch durch die Liebe dies ja einer Beziehung sehr dienlich Friederike von Tiedemann, Jahrgang
ganz von allein gegeben sein müsste ist, wenn der eine sich um die Wartung 1961, ist Diplom-Psychologin und
und Liebe die Probleme ganz von al- des Computers kümmert, weil er tech- approbierte Psychotherapeutin. Sie
lein löst. Und dann erleben Paare, dass nisch versiert ist, und der andere sich ist Ausbilderin und Supervisorin von
auch Liebe eine endliche Ressource ist. mehr um die Pflege sozialer Kontakte Paartherapeuten/innen und leitet das
Die sagen dann zu mir „Frau von Tiede- kümmert, weil er das gut kann. Dieser Hans Jellouschek Institut Freiburg
mann, die Liebe ist weg. Und wenn die Gleichheitsanspruch, der im Grunde (HJI) für Systemisch-Integrative Paar-
nicht mehr da ist, dann kann ich doch uneinlösbar ist, führt zu enorm vielen therapie. Sie hat das Buch „Versöh-
auch gehen“. Die Vorstellung, dass der Diskussionen und kostet viel Kraft nungsprozesse in der Paartherapie“
Wunsch nach verlässlicher Liebe erfor- und Energie. Paare können dafür auf herausgegeben, das neben einem
dert, dass man sich darum bemüht, Zeit keine Modelle zurückgreifen. Denn sie theoretischen Teil eine praktische
und Energie dafür investiert, neue Fä- können sich nicht an Elternmodellen Anleitung inklusive einer DVD zum
higkeiten und Beziehungskompetenzen orientieren, weil sie das traditionelle Verzeihen und Versöhnen enthält.
entwickelt, ist oft nicht sehr bewusst. Rollenmodell ja gerade ablehnen.
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