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Hobby und Freizeit
                            BUCH-TIPP







             „Gesocks*innen“,








                    Heimlichkeiten








                              und Lügen
             Ein Roman blickt hinter die Fassaden
             einer Berliner Professorenfamilie


             Eine Rezension
             von Udo Brandes






       „Trennungen. Verbrennungen“ – so     man ist ein ironisches, aber durchaus   verliebt. Diese wiederum verheimlicht,
       heißt der neueste Roman von Helmut   realistisches Spiegelbild unserer Ge-  dass sie ihren Lebensunterhalt als
       Krausser. Er spielt im Berlin unserer   sellschaft. Und die Lektüre ein Genuss.   Escort-Girl verdient. Sie kommt durch
       Zeit und schildert einige Wochen aus                                     ihre Arbeit als sexuelle Dienstleisterin
       dem Leben einer bildungsbürgerlichen   „Ein brauchbarer Mann             mit Professor Reitlingers Doktoranden
       Familie – und deren Heimlichkeiten.                                      Leopold in Kontakt, was zu Verwick-
       Ein gelungenes und sehr unterhalt-   fürs Bett, aber aus Sicht           lungen führt: Ihr Geheimnis, die Arbeit
       sames Gesellschaftsporträt.          der Professorentochter              als sexuelle Dienstleisterin, droht
                                            nur ein ‚Schwanz mit                aufzufliegen. Ein weiteres Problem von
       In der Politik wurde im Zusammen-                                        Caro: Sie wird ihren Liebhaber Petar
       hang mit der AFD heftig darüber      Grundwortschatz‘“                   nicht los. Ein wohl zweifellos sehr
       gestritten, was „bürgerlich“ ist und                                     brauchbarer Mann fürs Bett, aber aus
       wer sich als „bürgerlich“ bezeichnen   Der Roman spielt im Berlin unserer Ge-  Sicht der Professorentochter Alisha nur
       darf. Eine unterhaltsame Antwort     genwart. Im Zentrum steht die Familie   ein „Schwanz mit Grundwortschatz“.
       darauf liefert der Schriftsteller Hel-  Reitlinger mit all ihren Heimlichkeiten,   Ansger, der ältere Sohn der Reitlin-
       mut Krausser in seinem neuesten      Sorgen und Streitereien: Fred Reitlin-  gers, hat soeben ein großes Start-up-
       Roman „Trennungen. Verbrennungen“.   ger, Professor für Archäologie. Seine   Unternehmen in den Sand gesetzt und
                                            Frau Nora und ihr Liebhaber Arnie.   ist verschwunden. Ist er womöglich
       Ein Rezensent schrieb über diesen    Margret, Arnies misstrauische Ehefrau.   Opfer eines Verbrechens geworden?
       Roman, er sei ein Querschnitt durch   Die Lieblingsdoktoranden von Profes-  Das soll hier nicht verraten werden.
       unsere Gegenwartsgesellschaft. Nein,   sor Reitlinger, Gerry und Leopold, die
       das ist nicht so ganz zutreffend. Die   beide um einen lukrativen Posten an   Helmut Krausser kann schreiben
       Arbeiterklasse hat zwar auch ihre Auf-  der Uni konkurrieren, und ihre Freun-  wie aus dem Leben gegriffen. Wenn
       tritte im Roman, aber sie ist nicht das   dinnen Sonja und Iris. Und dann sind   seine Figuren sprechen, klingen sie
       eigentliche Thema. In der Hauptsache   da noch die beiden Kinder der Reitlin-  wirklich so, wie man es auch in der
       ist der Roman ein Porträt der bildungs-  gers: Tochter Alisha, neunzehn Jahre   Realität beobachten könnte. Und er
       bürgerlichen Mittel- und Oberschicht.   alt, studiert im ersten Semester Polito-  bringt die aktuellen Konfliktlinien in
       Man hat beim Lesen oft das Gefühl: Ja,   logie und ist sich noch nicht klar über   der Gesellschaft und zwischen den
       so geht das heute in gehobenen Aka-  ihre sexuelle Orientierung. Sie hat   Generationen gut auf den Punkt. So
       demikerkreisen zu. Deshalb kann man   sich, ohne das offen zu zeigen, in ihre   zum Beispiel beim Thema „Politische
       mit Fug und Recht sagen: Dieser Ro-  Kommilitonin und enge Freundin Caro   Korrektheit“. Krausser versteht es





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