Page 16 - Familienmagazin 2015
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Kinder, Jugendliche und Gesundheit

Geht´s zu Hause besser?

Die Homeschooling-Verfechter machen auch im Nordwesten mobil

                                            © chasingmoments, fotolia                nach eigenem Bekunden vor vermeint-
                                                                                     lich schädlichen Einflüssen wie zum
Das Netz, das das Netzwerk Bildungs-        Neubronner ihre beiden Söhne aus-        Beispiel religionskritischen Äußerun-
freiheit e.V. mit Sitz in Nürnberg bisher   schließlich in den eigenen vier Wän-     gen oder dem Sexualkundeunterricht
geknüpft hat, weist Lücken auf. Denn im     den beschult. Sie taten das nicht aus    schützen – und vor anderen Kindern.
Nordwesten Deutschlands sind die Ver-       grundsätzlicher Kritik am staatlichen    Sozialisation durch Gleichaltrige habe
fechter des sogenannten Homeschoolings      Bildungssystem, sondern weil sich ihre   oft negative Folgen, behauptet Vor-
relativ spärlich vertreten. Und das wollen  Jungen angeblich mit Händen und Fü-      standsmitglied Jörg Großelümern vom
sie ändern: Auch im Großraum Bremen         ßen gegen den Schulbesuch gewehrt        Netzwerk Bildungsfreiheit, in dem sich
und Oldenburg wollen sie verstärkt auf      hätten. Die Schule im klassischen        zahlreiche Organisationen, Elterniniti-
die vermeintlichen Vorteile hinweisen,      Sinne habe den Sprösslingen körperli-    ativen und Einzelpersonen zusammen-
die es aus ihrer Sicht hat, wenn Kinder     che und seelische Schäden zugefügt,      geschlossen haben. Davon legten viele
der staatlichen Schule fernbleiben und      und das hätten sie als Eltern nicht      Schulen Zeugnis ab, an denen Gewalt,
stattdessen zu Hause von ihren Eltern       mehr mitansehen können. „Warum soll      Mobbing und Respektlosigkeit herrsch-
unterrichtet werden.                        der Staat besser als die Eltern wissen,  ten. Und das werde ebenfalls durch
In Bremen und umzu sind die Eheleu-         was für die eigenen Kinder gut ist?“ So  den zunehmenden Werteverfall in der
te Dagmar und Tilmann Neubronner            argumentierten die Neubronners und       Gesellschaft unterstrichen.
aus der Hansestadt die bekanntesten         bewiesen gegenüber der staatlichen       Den Einwurf, dass Homeschooling-
Homeschooling-Verfechter. Nachdem           Autorität ein dickes Fell.               Kinder sozial isoliert würden, kontert
sie zu Zwangsgeld und Erzwingungs-                                                   Jörg Großelümern mit der Behauptung,
haft verurteilt worden waren, flüchte-       „Homeschooling fördert Parallelgesell-   dass sie ihre eigenen Freundeskreise
ten sie 2007 aus Deutschland. Inzwi-        schaften“                                hätten. Außerdem würden sie selbst-
schen sind die Neubronners jedoch                                                    verständlich zum Beispiel Sportvereine
wieder zurückgekehrt und engagieren         Ihre Gründe für das Homeschooling        oder Musikschulen besuchen.
sich im Netzwerk Bildungsfreiheit.          sind nicht typisch. Ein großer Teil      Den obersten deutschen Richtern
Jahrelang hatten Dagmar und Tilmann         der Eltern, die ihre Kinder nicht zur    reicht ein solches Maß an gesellschaft-
                                            staatlichen Schule schicken, will sie    licher Integration nicht aus. Sie halten
                                                                                     Homeschooling für rechtswidrig. Das
                                                                                     Bundesverfassungsgericht urteilte am
                                                                                     31. Mai 2006 unter anderem:
                                                                                     „(...) Die Allgemeinheit hat ein berech-
                                                                                     tigtes Interesse daran, der Entstehung
                                                                                     von religiös oder weltanschaulich
                                                                                     motivierten 'Parallelgesellschaften'
                                                                                     entgegenzuwirken und Minderheiten
                                                                                     zu integrieren. (...) Für eine offene plu-
                                                                                     ralistische Gesellschaft bedeutet der
                                                                                     Dialog mit solchen Minderheiten eine
                                                                                     Bereicherung. Dies im Sinne gelebter
                                                                                     Toleranz einzuüben und zu prakti-
                                                                                     zieren, ist eine wichtige Aufgabe der
                                                                                     öffentlichen Schule. (...)“ Der Europä-
                                                                                     ische Gerichtshof für Menschenrechte
                                                                                     traf am 11. September 2006 eine
                                                                                     ganz ähnlich lautende Entscheidung.
                                                                                     Im November 2014 bekräftigte das

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