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FAMILIENMAGAZIN OLDENBURG  2 | 2022                                                                   * ANZEIGE







       Warum Schimpfen
       das Leben verbessert


       Sind aber diese Glücksstreber, die alles Negative aus
       ihrem Leben verdrängen und nur noch das Positive
       sehen wollen, wirklich die glücklicheren Menschen?
       Oder anders gefragt: Haben sie wirklich das bessere
       Leben? Meine Antwort wäre ohnehin: nein. Denn erstens
       kann man das Ungemach, das uns im Leben widerfährt,
       nicht aus dem Leben aussperren. Und zweitens, wer es
       verdrängen will, der wird es trotzdem nicht los. Bei ihm
       kommt es zum Beispiel in Form von Magenschmerzen
       wieder. Deshalb fand ich es sehr schön, wie Schreiber in
       ihrem Buch beschreibt, wie wohltuend und sinnvoll das
       Schimpfen ist. Sie erklärt dies am Beispiel eines Expe-
       riments. Menschen sollten dabei eine Hand in eiskaltes
       Wasser halten. Dann wurde die Zeit gemessen, wie lange
       sie dies aushalten können. Beim zweiten Versuch wurde
       ihnen gleichzeitig eine Liste mit Schimpfwörtern vorge-
       legt, die sie laut lesen sollten, während ihre Hand in eis-
       kaltes Wasser getaucht war. Darunter Wörter wie „Hoden-
       Gnom“ oder „Schwingtitte“. Ein Vokabular, das man ohne
       Weiteres zu Herbert Wehners Zeiten auch im Bundestag
       hätte hören können (nämlich von ihm selbst), das aber
       in unseren politisch korrekten Zeiten sogleich ein großer
       Skandal wäre. Wie dem auch sei: Bei dem Versuch kam
       heraus, dass Menschen, die die Liste der Schimpfwörter
   © iStock.com/Ghrzuzudu  ser eintauchen konnten. Schimpfen und Fluchen erleich-  Resümee
       laut vorlasen, längere Zeit ihre Hand in das eiskalte Was-

                                                            Schreibers Buch ist eine fundierte und unterhaltsam ge-
       tert es also offenbar, Schmerz aushalten zu können. Mit
       anderen Worten: Schimpfen und Fluchen entlastet und
                                                            schaft, die an einem Punkt ansetzt, der jeden betrifft: am
       tut uns gut. Und das gilt natürlich nicht nur für körperli-  schriebene Kritik an unserer Selbstoptimierungsgesell-
       che Schmerzen, sondern auch für seelische Belastungen.   Wunsch nach einem guten Leben. Und da hat die Autorin
       Darüber hinaus kommt Schreiber auch vollkommen zu    vollkommen Recht, wenn sie den gesellschaftlichen
       Recht zu dem Schluss: „ ... Schimpfen (ist) eigentlich ein   Zwang zum „Gut-drauf-sein“ als die eigentliche Krankheit
       zivilisatorischer Fortschritt. Statt den Idioten, der uns die   diagnostiziert, die überhaupt erst Probleme schafft. Weil
       Vorfahrt genommen hat, aus dem Wagen zu zerren und   dieser Zwang den normalen emotionalen Zustand, näm-
       ihm einen Scheitel zu ziehen, wählen wir eine symboli-  lich dass man sich nicht immer gut und schon gar nicht
       sche Ersatzhandlung. Wir attackieren ihn mit Worten, die   glücklich fühlen kann, pathologisiert. Und weil durch die
       er nicht einmal hört. So gehen alle ungeschoren aus dem   Unterdrückung negativer Emotionen auch gesellschaft-
       Streit heraus und wir fühlen uns besser.“            liche Zustände, die beim einzelnen Menschen Unglück
                                                            hervorrufen, als politischer Konflikt stillgelegt und zum

       Aber das negative Denken, das Unzufriedensein, Wut,   individuellen Problem gemacht werden. Deshalb meine
       Ärger – all dies sollte auch aus einem anderem Grund   Empfehlung: Kaufen! Es lohnt sich.
       nicht verdrängt oder wegmeditiert werden. Denn sol-
       che Gefühle haben auch gesellschaftlich und politisch
       eine wichtige Funktion: Wenn Menschen nicht wütend                 BUCH-TIPP
       werden, dann werden sie auch nicht politisch aktiv. Und
       wenn sie nicht politisch aktiv werden, dann verändert
       sich auch nichts. Deshalb schreibt Schreiber zutreffend:                     Juliane Marie Schreiber:
       „Karl Marx’ berühmte 11. Feuerbachthese müsste eigent-                       Ich möchte lieber nicht.
       lich lauten: ‚Die Optimisten (anstatt die Philosophen; UB)                   Eine Rebellion gegen den
       haben die Welt nur positiv interpretiert. Es kommt aber                      Terror des Positiven,
       darauf an, sie zu verändern.‘ Denn gerade weil sie ein                       206 Seiten,
       revolutionäres Potential haben, können negative Emotio-                      Piper Verlag 2022,
       nen eine ‚revolutionäre Situation‘ erzeugen. Statt sich die                  16,00 Euro.
       Missstände schön zu reden, sollte man lieber die Dinge
       in der Welt ändern.“


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