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Freizeit, Buch und Bildung









            Die Absurditäten der Selbstoptimierung

            Haarausfall als Chance







                 ind Sie auch entnervt davon, dass Ihnen Ihre Lebens-
                 probleme, Schwierigkeiten und Leiden als „Heraus-  Eine Rezension von Udo Brandes
            Sforderung“ oder „Chance zum inneren Wachstum“
            verkauft werden? Oder dass man Ihnen nahelegt zu medi-
            tieren oder achtsamer zu leben, um Ihre „Resilienz“ (Wider-  ihr Zuhause zerbombt wurde und die flüchten mussten,

            standskraft) zu steigern? Oder dass man Ihnen vorhält, Sie   um ihr Leben zu retten, einfach nur falsche Entscheidun-
            würden einfach zu negativ denken? Dann sollten Sie das   gen getroffen. Sie müssen sich einfach nur entscheiden,
            Buch der Journalistin Juliane Marie Schreiber lesen. Diese   trotzdem glücklich zu sein. Ich denke, an diesem Beispiel
            stieß bei ihren Recherchen für ihr Buch „Ich möchte lieber   wird deutlich, wie absurd diese „Glückspsychologie“ ist.
            nicht. Eine Rebellion gegen den Terror des Positiven“ unter   Wir sind zwar auch durch unsere Denkweisen und Ein-
            anderem auf Absurditäten wie die Zeitungsschlagzeile   stellungen die Schöpfer unseres Glücks oder Unglücks.
            „Haarausfall als Chance“.                             Aber das Zauberwort dabei ist „auch“. Und: Es ist im
                                                                  Gegenteil sogar äußerst schädlich, negative Gefühle wie
            Schreiber diagnostiziert für unsere Gesellschaft, dass   Wut, Zorn, Traurigkeit, kurz: emotionale Schmerzen, zu
            der Druck, unter allem Umständen eine positive Haltung   unterdrücken. Das belegt Julia Schreiber sehr schön.
            einzunehmen, so hoch sei wie noch nie zuvor. Unterneh-
            men, Denkfabriken, Coaches, Nachbarn und vor allem die   Glück als neues
            Werbung terrorisierten die Menschen mit der Forderung,
            doch positiv eingestellt zu sein. Und das Schlimme sei:   Statussymbol
            Diejenigen, die nicht positiv denken, würden stigma-
            tisiert. Maßgeblich dazu beigetragen habe ein neuer   Sie werden es vielleicht auch schon in Gesprächen mit
            psychologischer Zweig aus den USA: „Dieser Glücksterror   Freunden, Bekannten, Kollegen usw. festgestellt haben:
            hat Rückenwind von einer neuen Psychologieströmung    Es gibt Menschen, bei denen ist im Leben immer alles
            bekommen, der Positiven Psychologie, die sich seit ihrer   „wunderbar“. Der Urlaub war „so schön“. Der Geburtstag
            Entstehung Ende der Neunzigerjahre in der westlichen   war ein Fest, das alle begeisterte. Das Wochenende mit
            Welt ausgebreitet und – wenig überraschend – eine um-  der Ehefrau/dem Ehemann war fantastisch. Das Sex-
            satzstarke Industrie im Rücken hat. Ihrer Grundidee nach   leben ohnehin. Von solchen Menschen hört man nie,
            gelingt ein glückliches Leben vor allem dann, wenn man   dass irgendetwas in ihren Leben vielleicht nicht perfekt
            negative Gedanken und Emotionen konsequent vermei-    ist. Warum ist das so? Schreiber hat dafür eine, wie ich
            det und sich auf das Positive fokussiert, selbst, wenn das   glaube, zutreffende Erklärung: „Unsere Kultur des Glücks
            ‚vielleicht auf Kosten‘ des ‚Realismus‘ geht.“        verneint den Schmerz, den körperlichen genauso wie
                                                                  den seelischen, und sie ignoriert seine biologische und
            Die Glücksformel                                      soziale Funktion (nämlich zu zeigen: es stimmt was

            des Martin Seligman                                   nicht; UB). Das hat nicht nur individuelle, sondern auch
                                                                  zwischenmenschliche Gründe. Als soziales Wesen sind
                                                                  uns Status und Anerkennung wichtig. Bisher ließen vor
            Der Begründer dieser Positiven Psychologie ist ein ame-  allem alle möglichen materiellen Besitztümer den Status
            rikanischer Psychologe namens Martin Seligman. Dieser   steigen, aber auch Leistung oder Wissen. Erst seit Kurzem
            behauptet, er habe so etwas wie die Glücksformel ge-  kommt das hedonistische  Glück als neue Dimension
            funden. Diese lautet H = S + C + V. Was heißen soll: Glück   hinzu. Die Glücklichen haben ein kostbares Gut, das wir
            ist gleich genetische Voreinstellung plus Umstände plus   alle gern hätten. Seitdem man es mit Bildern der gan-
            willentliche Kontrolle (happiness = genetic set point +   zen Welt zeigen kann, wird das edle Dinner am ausge-
            circumstances + voluntary control), und zwar in der Auf-  wählten Boutique-Reiseort zum Ausdruck des erfüllten
            teilung 50, 10, 40. Also die Hälfte sei Genetik, ein Zehntel   Lebens. Doch wenn das Zeigen des Glücklichseins selbst
            Schicksal, und der Rest liege in unserer eigenen Hand.   zum Status wird, gibt sich natürlich niemand die Blöße
                                                                  und redet über dunkle und schmerzvolle Erlebnisse –
            Letztlich will Seligman suggerieren, dass das Glück des   es könnte ja die Anerkennung von anderen mindern.“
            Menschen einfach eine Sache der Entscheidung ist. Oder   Ein glückliches Leben zu haben, das ist also in unserer
            anders ausgedrückt: Jeder ist seines Glückes Schmied.   Gesellschaft eine Art von Statussymbol geworden, das
            Dann haben wohl die Ukrainer, die unglücklich sind, weil   gerne zur Schau gestellt wird.


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