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Kolumne
Das
gewöhnliche Leben
ist oft das bessere
aben Sie schon mal einen Erfolgs- oder Motivati- ben zufrieden? Oh Gott, wie armselig!
onsratgeber gelesen? In solchen Büchern fi ndet Aber worin besteht für die Erfolgs- und Coachingindustrie
Hman regelmäßig die Idee – oder vielleicht muss der Nutzen, wenn ihre Leser und Anhänger sich defi zitär
man sogar sagen: die Ideologie – dass man nicht einfach fühlen? Nun, auf diese Weise lassen sich Menschen dazu
ein normales, „gewöhnliches“ Leben führen darf. Nein, motivieren, Kunden zu werden. Denn wer will schon
nur das außergewöhnliche Leben ist aus der Perspektive defi zitär sein, erst recht, wenn es scheinbar so einfach ist,
dieser Erfolgs- und Motivationsgurus ein Leben, das es ein Leben voller Glamour zu führen. Die Ratgeberindus-
wert ist, gelebt zu werden. Dies drückt sich schon in den trie braucht also Menschen, die ihr durchschnittliches,
Titeln aus: Der Amerikaner Brandon Burchard betitelt gewöhnliches Leben als defi zitär empfi nden. Deshalb
seinen Ratgeber „High Performance Habits. Die Kunst, au- flößen sie den potentiellen Kunden das Gefühl ein, „mit
ßergewöhnlich zu werden“. Ebenso die Management- und dir stimmt was nicht“. Ziel ist dabei die Normalisierung
Erfolgsgurus Anja Förster und Peter Kreuz. Sie fordern der Besessenheit von der eigenen Selbstoptimierung.
auf einem ihrer Titel „Alles außer gewöhnlich“. In dem Ob es um Schönheit, Fitness, Ernährung, Sex, Eheleben,
Erfolgsratgeber „The One Thing“ von Gary Keller und Jay Freundschaften, das Geschäft, Arbeitsbeziehungen oder
Papasan heißt es im Untertitel „Die verblüffend einfache um Techniken zur Stärkung der Durchsetzungsfähigkeit
Wahrheit über außergewöhnlichen Erfolg“. geht: Stets liegt den Ratgebern der Gedanke zugrunde,
dass niemand attraktiv, athletisch, durchsetzungsfähig,
Diese Forderung nach einem außergewöhnlichem Leben engagiert, gesund, erfolgreich oder glücklich genug ist.
werden Sie in nahezu allen Erfolgsratgebern fi nden. Sich nicht verbessern zu wollen, ist aus dieser Perspekti-
Auch die Medien mit ihrer Glitzer- und Glamourbericht- ve sozusagen ein Zeichen für einen psychischen Defekt.
erstattung und ihren Wettbewerbsshows vermitteln uns
permanent das Gefühl, ein Leben sei nur dann etwas Ist das nicht ein großer Irrtum? Ich glaube, dass jeder
wert, wenn es voller Glamour ist und man Außergewöhn- einfache Sachbearbeiter bei einer Behörde mehr Freihei-
liches erreicht. ten und Glücksmomente in seinem Leben hat, als zum
Beispiel ranghohe Politiker. Oder glauben Sie ernsthaft, © iStock.com/IakovKalinin
In den Erfolgsratgebern ist die Haltung „Sei außerge- dass Bundeskanzler Scholz mit seinen zig Terminen ein
wöhnlich!“ oder „Führe ein außergewöhnliches Leben!“ schönes Leben hat? Ich vermute, er wird höchstens auf
geradezu eine fi xe Idee. Nicht zuletzt deshalb, das ist der Toilette mal fünf Minuten Zeit haben, um zu sich
meine These, weil so mancher dieser Autoren neurotisch selbst zu kommen. Ansonsten ist sein Leben vor allem
ist und Allmachts- und Grandiositätsphantasien braucht, eines: fremdbestimmt. Ständig einer sozialen Kontrolle
um sein fragiles Selbstwertgefühl in Schach zu halten. unterworfen. Er wird sich niemals schlampig gekleidet
und unrasiert in ein Café setzen können und einfach mal
Diese Aufforderung zu einem außergewöhnlichen Leben so in den Tag hineinleben können. Die Überschrift über
hat auch eine Funktion. Sie lässt ein normales, gewöhnli- ein solches Leben heißt: „Du musst funktionieren. Denn
ches Leben mit all seinen Freuden und Glücksmomenten du lebst für die Arbeit. Und deshalb musst du immer für
als ein defi zitäres Leben erscheinen: Wie, du gehst nur die Arbeit da sein.“
ganz normal als Angestellter arbeiten und machst um
17.00 Uhr oder noch früher Feierabend? Du bist zufrieden Deshalb ist mein Credo: Schätze das gewöhnliche Leben.
mit einem normalen Sachbearbeitergehalt und einem Ur- Wem es gelingt, mit einem „normalen“ Job seine materiel-
laub im Jahr? Du bist mit einem gewöhnlichen 08/15-Le- len Notwendigkeiten und Bedürfnisse zu erfüllen, der hat
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